Das Erstellen von Auswahlsammlungen aus größeren Textmengen mit dem Ziel, die eigene Geschichte und Gegenwart zu verstehen und zu deuten, hat eine lange Vorgeschichte. So blieben – abgesehen von der griechischen Ubersetzung des Alten Testaments – die ältesten Zeugnisse des hellenistischen Judentums nur erhalten, weil Alexander Polyhistor (ca. 110–40 v.Chr.) sie seinem Sammelwerk Peri Ioudaiōn einfügte, das wiederum Eusebius von Caesarea ausgiebig verwendete, und zwar hauptsächlich in Buch IX seines Werks Praeparatio Evangelica. Darin hat Eusebius im Rahmen seiner historisch-philosophischen Begründung der christlichen Offenbarung als einer Kritik und Bestätigung sowohl der biblisch-jüdischen als auch philosophisch paganen Überlieferungen Zeugnisse über das jüdische Volk und seine Religion zusammengetragen. Vor allem über Eusebius blieben so die Anfänge der jüdisch-hellenistischen Literatur in der christlichen Literatur erhalten. Dasselbe gilt für die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die am Anfang der jüdisch-hellenistischen Literatur steht, ebenso wie für die Reste der weiteren, vor allem jüdischen Übersetzungen der Hebräischen Bibel, deren Fragmente sich weitestgehend der Sammelarbeit des alexandrinischen christlichen Gelehrten Origenes in der ersten Hälfte des 3. Jh.s verdanken.
Die Schriften der herausragenden jüdisch-hellenistischen Autoren Philo von Alexandrien und Josephus von Jerusalem wurden ebenfalls nur im christlichen Kosmos uberliefert, und es dauerte bis ins 10. (Josippon) bzw. 16. Jh. (Philo), ehe diese Texte auch wieder innerhalb des Judentums Wirkung erzielten. Für weitere Bestandteile der jüdisch-hellenistischen Literatur (insbesondere der Apokalyptik) fand diese Reintegration in die jüdische Religions- und Kulturgeschichte erst mit Verzögerung und nach der Überwindung erheblicher innerer Widerstände gegen diese teilweise ›bizarren‹ Vorstellungswelten im Verlauf des 20. Jahrhunderts statt, nachdem die Bedeutung und wissenschaftliche Erschließung (verbunden mit zahlreichen Neuentdeckungen) vor allem im Kontext der neutestamentlichen Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s begonnen hatte.
Diese Texte überdauerten häufig nur außerhalb der lateinisch- und griechischsprachigen christlichen Literatur, auch wenn die erhaltenen syrischen, koptischen, äthiopischen, armenischen oder (kirchen-)slawischen Übersetzungen noch vielfach die griechische Vorlage erkennen lassen. Wann immer diese Texte in eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Neuen Testament einbezogen wurden, änderte sich die Perspektive auf beiden Seiten: Das spezifisch jüdische Geprage der Schriften des Neuen Testaments wurde deutlicher gesehen und dadurch allzu schlichten, z.T. antijüdischen Überbietungs- und Abgrenzungsmechanismen innerhalb der christlichen Theologie der Boden entzogen. Zugleich wurde erkannt, dass das Judentum in der römischen Zeit historisch nicht allein durch die – lange Zeit auch innerjüdisch präferierte – Perspektive des rabbinischen Judentums verstanden werden darf, sondern deutlich pluraler war und Ansichten, wie sie im Neuen Testament begegnen, unabhängig davon und teilweise schon früher im weiten Spektrum des Judentums vertreten wurden.
Der Beginn einer systematischen Verwendung jüdisch-hellenistischer Texte (vor allem Septuaginta und Josephus) für die Auslegung des Neuen Testaments steht im Zusammenhang mit der sog. ≫Observationenliteratur≪, die im 16. Jh. beginnt und in der es um die Beziehungen zwischen Hellenismus und Neuem Testament ging. Der Leipziger Professor Joachim Camerarius (1500–1574) war einer der ersten wichtigen Vertreter. Basierend auf dem hermeneutischen Programm von Matthias Flacius Illyricus wurde der mittelalterlichen Auslegung des vierfachen Schriftsinns mit ihrer Überbetonung der Allegorie eine philologisch-historische Exegese entgegengesetzt, deren Grundlage Semantik, Syntax und Textpragmatik der biblischen Autoren waren. Diese konnte nur im Abgleich mit der zeitgenössischen hebräischen und griechischen Literatur erreicht werden, so dass fortan profunde Kenntnisse der griechischen und hebräischen Sprache und ihrer Literaturen zum – zunächst nur protestantischen – Ideal des Bibelauslegers gehörten. Es entstand eine neue Art von Kommentaren, deren Ziel es war, aufgrund philologischer Parallelen aus der gesamten griechischen Überlieferung (von Homer bis zu den Kirchenschriftstellern des 5. Jahrhunderts) Sprache, Stil und Inhalt der neutestamentlichen Texte sachgemäßer zu verstehen.
Einen Markstein der Observationenliteratur bildet Hugo Grotius (1583– 1645) und seine Annotationes in libros Evangeliorum (Amsterdam 1641), in der erstmals auch Philo von Alexandrien ausführlich herangezogen wurde. Bis 1650 lag von Grotius die Bearbeitung des ganzen Neuen Testaments in drei Bänden vor, die zahlreiche Nachdrucke und Überarbeitungen erlebten. Höhepunkt, wenn auch noch nicht Abschluss dieser Gattung der Sammelliteratur ist die Ausgabe des Neuen Testaments durch Johann Jakob Wettstein (1693–1754), die 1751/52 in zwei Bänden erschien und bis heute namengebend ist für den sogenannten ≫Neuen Wettstein≪. Dem ≫alten≪ Wettstein ging es darum, aufgrund von uber 30.000 philologischen und sachlichen Quellenbelegen aus der gesamten hebräischen, aramäischen, griechischen und lateinischen Literatur des Altertums bis hin zum frühen Mittelalter, einschließlich der biblischen, frühchristlichen, patristischen und rabbinischen Quellen, eine so breit wie mögliche Materialbasis für die Interpretation des Neuen Testaments zusammenzutragen, um im Falle von textkritischen Schwierigkeiten sachgemäße Entscheidungen treffen zu konnen. Ein tieferes Eindringen in Profil und Aussageabsichten der außerneutestamentlichen Quellenbelege war dagegen nicht beabsichtigt, und diese Kritik gilt ebenfalls für das 1986 initiierte Nachfolgeprojekt des ≫Neuen Wettstein≪, der als unkommentierte Materialsammlung deutliche Grenzen hat.
Vom ≫alten Wettstein≪ führt aber nicht nur eine Linie zum ≫Neuen≪, sondern auch zum ≫Corpus Hellenisticum≪. Dieses 1915 von dem Leipziger Neutestamentler C. F. Georg Heinrici initiierte Projekt wollte unter dem neuen Namen eine grundlegende Neubearbeitung von Wettsteins Ausgabe des Neuen Testaments vorbereiten. Das Erscheinen von Billerbecks monumentaler Stellensammlung ≫Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch≪ ab 1922 erübrigte die Behandlung der rabbinischen Literatur, so dass sich fortan alle Aufmerksamkeit auf die griechische (und in geringerem Umfang auch lateinische) Literatur richtete. In verschiedenen Verzweigungen (Corpus Pagano-Hellenisticum und Corpus Judaeo-Hellenisticum) wurde dieses Projekt durch das ganze 20. Jahrhundert verfolgt, erzielte jedoch lediglich begrenzte Resultate in Einzelbereichen, realisierte aber nie das erstrebte Gesamtprojekt.
Zu Recht hebt Frey in seinem Forschungsbericht hervor, nur durch solche ≫Parallelen und Kontextualisierungen≪ wie sie der ≫Neue Wettstein≪ und ähnliche Werke ermögliche, werde ≫das Verstehen wirklich vorangebracht. Darum ist die Sammlung und reflektierte exegetische Wahrnehmung von Parallelen, Hintergrund- und Kontrasttexten zu neutestamentlichen Aussagen von größtem interpretatorischem Wert. Freilich kann dies heute kaum mehr durch eine einzige, auf einen spezifischen Textbereich fokussierte Sammlung bewerkstelligt werden, sondern nur durch ein interdisziplinär verantwortetes Zusammentragen und Abwägen von Parallelen aus unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Kontexten.≪1 Das CJHNTdigital-Projekt bietet eine solche Perspektive, und zwar bezogen sowohl auf die neutestamentlichen als auch auf die fruhjüdischen Schriften in ihrem wechselseitigen Verhältnis. Zudem ist das Projekt so angelegt, dass weitere Textkorpora, die bei diesem Projekt (zunächst) nicht vorrangig behandelt werden, angeschlossen werden können, indem die Plattform entsprechend ergänzt wird.
Problem aller bisherigen Versuche zur Realisierung ist die Materialfülle, die nicht nur wissenschaftlich zu bearbeiten, sondern auch in angemessener Weise darzustellen ist. Die Anforderungen haben sich durch die wissenschaftliche Arbeit der letzten 50 Jahre so grundlegend verändert, dass eine einlinige, auf das Neue Testament bezogene Parallelensammlung heutigen Ansprüchen und Einsichten nicht mehr genügt. Hinzu kommt, dass sich die Materialbasis in den letzten ca. 100 Jahren erheblich erweitert hat. Das gilt insbesondere für das Corpus Qumranicum, das in der ursprünglichen Projektstruktur des CJH aufgrund der Fundgeschichte nicht enthalten sein konnte. Unter diesen Vorzeichen hat im Jahr 2000 eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern ein neues Konzept der Bearbeitung des CJH in seinem Bezug auf das Neue Testament entworfen und erprobt. Dazu sind in regelmasigen Abständen Projektworkshops (jährlich) und bisher fünf internationale Fachtagungen durchgeführt worden, die in Tagungsbänden dokumentiert sind. Zu einigen Textbereichen des Neuen Testaments sind bereits in umfangreichen Maße Belegstellenübersichten aus dem CJH zusammengetragen worden (Römer- und Galaterbrief; Pastoralbriefe; Jakobusbrief; Evangelien: Markus, Matthäus und Lukas). Im Rahmen eines Teilprojektes zu den Pastoralbriefen wurde in den Jahren 2013–2015 in Kooperation mit dem Institut für Angewandte Informatik an der Universitat Leipzig das Konzept für eine digitale Arbeitsstruktur entwickelt, das Ausgangspunkt für eine professionelle und internetbasierte digitale Forschungsplattform ist und in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Digital Humanities in Leipzig weiterentwickelt wurde.
1 Frey, Der »Neue Wettstein« auf der Zielgeraden, 904.