Pressemitteilung zum Projektstart

Seit April 2024 widmet sich ein Forschungsvorhaben der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig der vollständigen digitalen Dokumentation der Zeugnisse des hellenistischen Judentums sowie der Kommentierung der Schriften des Neuen Testaments im Licht dieser jüdischen Überlieferungen. Das Vorhaben ist Teil des Akademienprogramms, das als derzeit größtes geistes- und kulturwissenschaftliches Langfrist-Forschungsprogramm der Bundesrepublik Deutschland von Bund und Ländern getragen und von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften koordiniert wird.

Im Forschungsprojekt „Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti digital“ werden die Überlieferungen des Judentums aus hellenistisch-römischer Zeit im zeitlichen und räumlichen Umfeld des Neuen Testaments vollständig dokumentiert und in ihrem Bezug auf das Neue Testament kommentiert. Damit wird zugleich die Geschichte und die Entwicklung des Judentums zwischen ca. 300 v. Chr. und 200 n. Chr. und seine vielfältige Prägung durch die griechisch-römische Kultur anschaulich. Die Forschungsergebnisse werden auf einer weiträumig vernetzten Online-Plattform und in Buchform zugänglich gemacht. Das Vorhaben der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig mit Sitz an der Universität Leipzig hat eine Laufzeit von 15 Jahren.

Das Neue Testament als Teil der Literatur des Frühjudentums

„Für uns grundlegend ist die Einsicht, dass die Schriften des Neuen Testaments selbst zu den jüdischen Schriften der genannten Epoche gehören“, sagt Prof. Jens Herzer von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, der gemeinsam mit drei weiteren Kollegen das Akademieprojekt leitet. „Die im Christentum kanonisch gewordenen Texte sind im Kontext der jüdisch-hellenistischen Kultur entstanden und damit ursprünglicher Teil der Literaturgeschichte des hellenistischen Judentums, auch wenn sie lange nicht als solche wahrgenommen wurden“, so der Wissenschaftler. Erstmals werden Parallelen aus allen erhaltenen Zeugnissen der literarischen und materialen Kultur des frühen Judentums neben den Bibeltext gestellt, aufbereitet, neu übersetzt, kontextualisiert und kommentiert, um die Zugehörigkeit der neutestamtlichen Schriften zur jüdischen Kultur- und Geistesgeschichte zu demonstrieren.

Transfer beabsichtigt

Neben den wissenschaftlichen Zielen ist auch ein Transfer auf verschiedenen Ebenen eine erklärte Absicht des Projekts. Angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen um Antijudaismus und Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft gewinnt dieser Aspekt eine große Bedeutung. „Für Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch für ehrenamtliche Laien in den Kirchgemeinden möchten wir Fortbildungen anbieten“, so Dr. Nicole Oesterreich, die Arbeitsstellenleiterin des Projektes.

Projekt mit Tradition

Die Idee des Projektes hat eine lange Geschichte, die mindestens bis ins 18. Jh. zurückreicht und eng mit der religionsgeschichtlichen Forschung in Leipzig und Mitteldeutschland verbunden ist. Aufgrund des Umfangs des Materials und begrenzter finanzieller und personeller Ressourcen konnte das Projekt jedoch nie umgesetzt werden. Nicht zuletzt die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung eröffnen nun auf der Basis einer langfristigen Förderung im Rahmen des Akademienprogramms den Weg zu seiner Realisierung.

Neben Herzer und Oesterreich leiten das Projekt die Theologen Prof. Dr. Karl-Wilhelm Niebuhr (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Prof. Dr. Christfried Böttrich (Universität Greifswald) sowie Prof. Dr. Roland Deines (Internationale Hochschule Liebenzell). Mit dem Verfassen der Kommentare sind Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland und darüber hinaus betraut.

Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti digital
Weitere Informationen: www.saw-leipzig.de/cjh; https://cjhnt-info.saw-leipzig.de
Laufzeit: 15 Jahre, Projekt im Akademienprogramm: www.akademienunion.de/forschung/akademienprogramm

Pressekontakt: Agnes Silberhorn, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit:
silberhorn[at]saw-leipzig.de | 0341 697642-50
Prof. Dr. Jens Herzer, Projektleiter: herzer[at]uni-leipzig.de | 0341 97-35420
Dr. Nicole Oesterreich: oesterreich[at]saw-leipzig.de | 0341 97-35424

Bildmaterial: https://www.saw-leipzig.de/bilder_cjh

Die Sächsische Akademie der Wissenschaften ist Mitglied der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Diese koordiniert das Akademienprogramm – eines der größten geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramme der Bundesrepublik Deutschland. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts.

Hintergrundinformationen

Das Corpus Judaeo-Hellenisticum (CJH) umfasst die Gesamtheit der erhaltenen literarischen, nichtliterarischen sowie materialen Zeugnisse des frühen, vor-rabbinischen Judentums, welche aus dem Gebiet der hellenistisch-römischen Welt aus einer Zeit zwischen etwa 300 vor und 200 nach Christus stammen.
Ziel des im April gestarteten und auf 15 Jahre angelegten Projektes der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig ist es, das CJH vollständig zu erfassen, zu digitalisieren und in seinem Bezug zum Neuen Testament zu kommentieren. Im Zentrum steht dabei die Bedeutung der Zeugnisse für die Interpretation des Neuen Testaments aus den Wurzeln des Judentums, welches seinerseits von der griechisch-römischen Kultur geprägt war.

Welche Arten von Quellen werden untersucht?

Berücksichtigte Quellen sind unter anderem die griechische Übersetzung des in Hebräisch verfassten Alten Testaments, die auch in der frühen Kirche genutzt wurde, Texte hellenistisch-jüdischer Autoren sowie Texte aus der Feder nicht-jüdischer Verfasser zu jüdischen Themen. Dabei handelt es sich neben den literarischen Texten unter anderem um relevante Münzfunde, Inschriften und Papyri, darunter auch die im 20. Jahrhundert entdeckten Schriftrollen von Qumran. Zu jeder neutestamentlichen Bibelstelle werden altsprachliche Texte hellenistisch-jüdischen Ursprungs nebst Übersetzung einander gegenübergestellt und in ihren gegenseitigen Bezügen und Besonderheiten kommentiert. Dabei bezieht das Forscherteam auch bereits vorhandene Bibelkommentare mit ein und ergänzt diese. Von vielen inzwischen verlorenen griechischen Originalen liegen den Forscherinnen und Forschern überlieferte Übersetzungen vor, etwa auf Latein, Altäthiopisch, Syrisch, Altkirchenslawisch oder Georgisch, die teils wesentlich jüngeren Datums sind, einige stammen beispielsweise aus dem Mittelalter.

Lang geplantes Großprojekt

Bestrebungen für ein Projekt dieser Art und in diesem Umfang gibt es schon lange. Sie wurden jedoch bisher nur bruchstückhaft umgesetzt und jeweils von einzelnen Theologen aus persönlicher Motivation über Forscher-generationen weitergetragen. Seit den ersten Arbeiten der Theologen Joachim Camerarius im 16. Jahrhundert, Johann Jakob Wettstein (1693–1754) und C. F. Georg Heinrici (1844–1915) sind sie eng mit Leipzig verbunden.

„Ein großes bisheriges Problem in der Projektausrichtung war zwischenzeitlich jedoch die theologisch gewollte, im Grunde aber künstliche Trennung neutestamentlicher Texte von ihren jüdischen Wurzeln“, erläutert Dr. Nicole Oesterreich. „Diese Verbindungen lassen sich anhand vorhandener Überlieferungen und Quellenvergleichen jedoch eindeutig nachweisen. Mit anderen Worten: Das Neue Testament ist nicht einfach vom Himmel gefallen“, so die Theologin. Die Trennung habe zur Folge gehabt, dass Teile des Projekts separat behandelt wurden und die jüdischen Quellen nur sehr begrenzt bearbeitet wurden.

Mit dem aktuellen Projekt wird nun eine digitale mehrsprachige altertumswissenschaftliche Forschungsplattform geschaffen, die erstmals eine Realisierung des umfangreichen Vorhabens in vernetzter Form ermöglicht. Sie implementiert Schnittstellen für weitere Korpora antiker Quellen und gewährt damit eine nachhaltige Fortführung der Forschungsarbeit.

Forschenden und interessierten Laien stehen nach der Umsetzung unterschiedlich umfangreiche Darstellungsmöglichkeiten der altsprachlichen Quelltexte zur Verfügung. Parallel zum Online-Geschehen soll eine Kommentarreihe in Buchform veröffentlicht werden. Studierende können im Rahmen des Projekts promovieren.

Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig

Seit ihrer Gründung als Königlich Sächsischer Gesellschaft der Wissenschaften im Jahr 1846 sieht sich die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig der Tradition des von Leibniz geprägten Akademiegedankens verpflichtet, als Gelehrtengesellschaft führende Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen zum regelmäßigen Diskurs zusammenzubringen und darüber hinaus im Einzugsgebiet Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen langfristige Forschung zu betreiben. Als Gemeinschaft von Gelehrten besteht die Akademie aus bis zu 90 Ordentlichen Mitgliedern, die ihren Wohnsitz oder ihre Dienststelle in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen haben. Des Weiteren besteht die Akademie aus bis zu 90 Korrespondierenden Mitgliedern und aus Ehrenmitgliedern. Im Jungen Forum können bis zu 15 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler das Akademie-Leben mitgestalten.

Als Forschungseinrichtung liegt der Schwerpunkt auf geistes- und kulturwissenschaftlichen Langfristvorhaben zur Erschließung kulturellen Erbes, von den die meisten Teil im europaweit einzigartigen Akademienprogramm sind. Die Digitalen Geisteswissenschaften sind ein weiterer Arbeitsschwerpunkt, zahlreiche Verbundprojekte zu diesem Thema werden von der Akademie koordiniert.

Derzeit betreibt die Akademie über 20 Vorhaben, viele davon in enger Kooperation mit Universitäten, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. So wird mit der Erarbeitung von wissenschaftlichen Handwörterbüchern wie des Althochdeutschen Wörterbuchs eine große sprachwissenschaftliche Tradition fortgesetzt. Kommentierte Werkausgaben wie die Leipziger Mendelssohn-Gesamtausgabe und Briefeditionen wie die des Schumann- oder des Gottsched-Briefwechsels bilden weitere Arbeitsschwerpunkte, ebenso Forschung zur Kulturgeschichte, z. B. das interakademische Projekt „Klöster im Hochmittelalter“ oder die „Enzyklopädie jüdischer Kulturen“. Vorhaben wie die „Bibliotheca Arabica“ und die „Wissenschaftliche Bearbeitung der buddhistischen Höhlenmalereien in der Kuča-Region der nördlichen Seidenstraße“ ermöglichen zudem die gedruckte und digitale Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung kulturellen Welterbes. Bei der Arbeit entstehen oft umfassende digitale Portale wie die „PROPYLÄEN. Forschungsplattform zu Goethes Biographica“ oder seit Anfang 2023 das „Forschungsportal BACH“, in dem erstmals digital sämtliche verfügbare archivalische Quellen zur gesamten Musikerfamilie Bach erschlossen und öffentlich zugänglich gemacht werden.

In zahlreichen Veranstaltungsreihen werden Experten aus Wissenschaft und Politik eingeladen, den öffentlichen Diskurs über jeweils aktuelle gesellschafts- und wissenschaftspolitische Themen voranzubringen.

Text: Agnes Silberhorn und Birgit Pfeiffer.