Die Weihnachtsgeschichte(n) als frühjüdische Erzählunge(n): Ein paar Schlaglichter
Die Weihnachtsgeschichte im Lukasevangelium erweist sich als eine anspruchsvolle frühjüdische Erzählung, die gekonnt antike Motive – von Jungfrauengeburten bis zu Hirten-Königen – mit jüdischen Messiashoffnungen verbindet. Durch vertraute Symbole und Themen gestaltet Lukas eine politisch aufgeladene Botschaft über göttliche Gerechtigkeit, die sowohl jüdische als auch griechisch-römische Zuhörer ansprach.
Herodes, der Kindermörder, die Hirten auf dem Feld, die nachher die drei Weisen treffen... In den deutschen Krippenspielen und -darstellungen werden die sehr unterschiedlichen Geburtsgeschichten oft zusammen verhandelt. Hier soll erst einmal nur die Lukas-Weihnachtsgeschichte zur Sprache kommen.
In unserem Projekt (dem Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti digital) gehen wir von der Prämisse aus, dass die Schriften der frühen Jesusanhänger und –anhängerinnen Teil eines antik-jüdischen Diskurses waren. Die sogenannte Trennung der Wege der Jesusanhänger und –anhängerinnen von ihrer Mutterreligion erfolgte erst nach und nach, regional unterschiedlich und war nicht vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgeschlossen. Dabei sind wir uns sehr bewusst, dass das antike Judentum sehr divers und tief verbunden mit der hellenistischen Kultur wie auch den regionalen Gegebenheiten im Mutterland wie in der Diaspora war.
Wir haben uns im Rahmen der Vorbereitung auf ein Radio Interview ein bisschen umgeschaut in unseren Quellen wie der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, und anderen frühjüdischen Texten, wo wir Motive und Themen aus der Weihnachtsgeschichte finden. Hier sind ein paar Schlaglichter:
Maria, die Jungfrau
Die Jungfrauengeburt ist heute eine Anstößigkeit. In der Antike war eine unnatürliche Zeugung und/oder Geburt das Kennzeichen für besondere Menschen. So soll Alexander der Große der Legende nach von Herakles abstammen. Altorientalische Herrscher sahen sich als Söhne von Göttern (beginnend mit Gilgamesh, der zu 2/3 göttlicher Abstammung gewesen sein soll). Jüdische Menschen kannten solche Geschichten von den sogenannten Erzmüttern wie Sarah, Rahel und Rebekka, die im hohen Alter oder auf wundersame Weise durch Gott von ihrer Kinderlosigkeit befreit wurden und ein Kind zur Welt brachten, das später eine besondere Rolle bekommen sollte in der jüdischen Geschichte.
Eine göttliche Zeugung und die Geburt durch eine Jungfrau waren also nichts Besonderes für den antiken Menschen rund um den Mittelmeerraum.
Lukas nahm die Sache mit der Jungfrau vermutlich aus mehreren Gründen auf. Der wichtigste ist das Zitat aus Jes 7,14 LXX:
„Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und du wirst ihm den Namen Emmanuel geben.“
Im Gegensatz zum hebräischen Wort ʿalmah (עַלְמָה), das auch nur „junge Frau“ bedeuten kann, ist die griechische Übersetzung hier eindeutig und übersetzt mit parthenos (παρθένος) – „Jungfrau“.
Bildbeschreibung: Eine Geburtsszene aus dem Manuskript Or. 481, f. 100v der British Library. Auf blauem Hintergrund sind verschiedene bunte Figuren zu sehen: Engel im oberen Teil, ein Ochse, ein Esel, zwei Schafe verteilt auf dem Bild. Maria liegt in der Mitte des Bildes, Joseph befindet sich links unten in der Ecke und kratzt sich am Bart. Jesus ist zwei Mal auf dem Bild. Einmal im Zentrum liegend, einmal in der Hand einer Frau, die mit einer anderen Frau neben Josef steht. Vermutlich die beiden Hebammen, die im Protevangelium des Jakobus vorkommen. Datierung: Zweite Hälfte 17. Jh.
In unserem Corpus kommt eine solche Jungfrauengeburt nur noch einmal vor: Melchisedek wird in 2. Henochbuch (auch slawischer Henoch genannt, Kapitel 71) von einer Jungfrau mit dem Namen Sopanima geboren. Diese ist mit einem Priester verheiratet, der sie niemals berührt hat. Im Alter, kurz vor ihrem Tod, wird sie auf wundersame Weise doch noch schwanger und versteckt sich vor lauter Scham. Dieses Motiv kennen wir auch von der Maria, die drei Monate bei ihrer Cousine Elisabeth bleibt. Als ihr Mann kurz vor der Geburt von Sopaminas Schwangerschaft erfährt, wird er sehr wütend. Daraufhin stirbt Sopamina in seinem Beisein. Der Mann Nir und Noah bereiten heimlich alles für das Begräbnis vor. In dieser Zeit kriecht ein kleiner Junge aus Sopamina hervor. Der ist schon wie drei Jahre alt, angezogen und kann sprechen. Der Junge ist der mystische Neubegründer der Priesterschaft und daher wird seine Geburt in allen erdenklichen Überhöhungen erzählt.
Jungfrauen spielen aber auch in der nichtjüdischen Literatur eine Rolle. Im ersten Jahrhundert war ein Text von Vergil sehr berühmt. Es ist die vierte Ekloge aus den Hirtenliedern (Bucolica). Nicht nur Vergil schrieb solche Hirtenlieder, sondern auch Seneca und Calpurnius Siculus. Es waren meist Auftragswerke für die römischen Kaiser. Sie sollten die Taten der Kaiser preisen, die angeblich das Goldene Zeitalter eingeläutet hatten. Das war eigentlich die Zeit bevor die Menschen sich durch Kriege aufgrund von Herrschsucht gegenseitig töteten. Eine Zeit des Überflusses der Natur, der Gerechtigkeit und des Friedens.
Das neue Zeitalter
Auch das Judentum kannte eine solche Zeit. Die Vorstellung eines quasi paradiesischen Zustands hatten sie aus der mesopotamischen Kultur übernommen. Dort war die Zeit vor der Sintflut eine solche gute Zeit des langen Lebens und der Gottesnähe, die mit dem Engelfall endete. Die Engel, die von den schönen Frauen der Menschen verführt, aus dem Himmel herabstiegen, brachten den Menschen die Kriegskunst bei, das Schminken der Frauen und weitere himmlische Geheimnisse. Diese Geschichte steht im 1. Henochbuch im Buch der Wächter (auch äthiopisches Henochbuch, Kap. 6–9).
Vergil besingt in seiner vierten Ekloge den Beginn des neuen Weltzeitalters:
„Schon ist die letzte Zeit des kumäischen Liedes gekommen,
neu wird die große Reihe der Weltzeitalter geboren.
Schon kehrt wieder die Jungfrau und wieder das Reich des Saturnus,
schon wird neuer Nachwuchs gesandt von der Höhe des Himmels.
Sei dem Knaben, der grad geboren wird und durch den das
Eisengeschlecht zuerst vergeht und das goldne im Weltall
aufsteigt, gewogen, du keusche Lucina: Schon herrscht dein Apollo.“
Gedeutet wurde der kleine Junge auf Augustus. Die Jungfrau hier ist wahrscheinlich Astraea, die jungfräuliche Tochter des Zeus, die enttäuscht von der Ungerechtigkeit der Menschen in den Himmel ging. Sie verkörpert die Gerechtigkeit. Der Evangelist Lukas fand hier eine wunderbare Möglichkeit jüdische Motive (das in eine Erzählung gegossene Zitat aus Jes 7,14 LXX) griechisch und römisch gebildeten Menschen als gemeinantike Hoffnung zu übermitteln.
Gleichzeitig kritisiert Lukas den Herrscherkult, indem er das göttliche Kind von einer jüdischen Frau in einem Stall in einer fernen römischen Provinz zur Welt bringen lässt und diese Frau vorher sagen lässt:
„Lk 1,51 Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; 52 er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. 53 Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen. 54 Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, 55 das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.“
Hier konzentriert Lukas eine Hoffnung, die wir in unseren Quellen an vielen Stellen finden. Zum Beispiel im Psalm Salomos 17, einem messianischen Psalm einer Sammlung aus der Septuaginta:
„ 21 Siehe, Herr, und richte ihnen ihren König auf, den Sohn Davids, zu der Zeit, die du, Gott, bestimmt hast, als König zu herrschen über Israel, deinen Knecht; 22 und umgürte ihn mit Stärke, zu vernichten ungerechte Herrscher, zu reinigen Jerusalem von den Heidenvölkern, die (es) vernichtend zertreten.“
Ein nicht nur von den römischen Besatzern, sondern auch von den eigenen Herrschern und Priestern geschundenes Volk hofft auf die Rettung aus dieser fürchterlichen Situation. Die Rettung soll ein König bringen von Gottes Gnaden aus dem Stamm Davids, daher auch die Stadt Bethlehem, in der der neue König geboren wird. Dies war auch die Stadt, in der David seine Jugend verbracht hatte.
Hirten
In den Krippenspielen werden die Hirten als die Ärmsten der Gesellschaft dargestellt. Aus der antiken Perspektive ist das nicht falsch, verkennt aber die für antike Menschen augenfällige Anspielung. In der Antike war das Symbol für einen König oder Kaiser der Hirte. Das stammt schon aus dem Gilgamesh-Epos, in dem Gilgamesh als der Hirte Uruks, der Hürdenumhegten dargestellt wird. So war auch der ideale König Israels, David, einstmals ein Hirte und dann der Hirte seines Volkes.
Eine lange Darstellung von den Herrschern als Hirten finden wir im Ezechielbuch im 34. Kapitel. Das ist ein komplexer Text, der mit der Kritik an den Hirten, also Herrschern, Israels beginnt, dann in die Hoffnung übergeht, dass Gott seine Schafe selbst weidet und damit eine Heilszeit kommen wird. Diese Hoffnung wird dann zunächst von einer Gerichtsvorstellung wieder getrübt (V. „Siehe, ich unterscheide zwischen starkem und schwachem Schaf.“) bis sie wieder übergeht mit der Ankunft des „anderen Hirten“ (V. 23), der mit David assoziiert wird. Die Schafe, also das Volk Israels, wird dann in seiner Heimat wohnen, befreit von ihrer Sklavenschaft und in Frieden.
Die Hirten des Lukas, die in der Nacht im Dunkeln sitzen, sind also Bilder für Herrscher, die von der Macht Gottes nichts wissen. Denen wird eine vermeintliche Rettungsbotschaft gebracht, die jedoch eigentlich eine Konkurrenzansage ist.
So verflicht Lukas Herrscherkritik mit Hoffnung für das Volk Israel. Dieses Volk erwartet einen göttlichen Retter, sei er Priester, Prophet (einer wie Mose oder Elia) oder ein König, am besten alles zusammen (vgl. die Hoffnungen der Gemeinschaft in Qumran). Die Königsmotivik ist überdeutlich in der lukanischen Geburtsgeschichte. Die priesterliche Seite kommt nur am Rande vor, indem die Geburtsgeschichten von Johannes und Jesus mit dem Priester Zacharias beginnen und enden mit der Beschneidung und dem Opfer im Tempel am achten Tag. Die prophetische Komponente zieht sich dann durch den Rest des Evangeliums, indem Jesus predigt und Wunder tut wie damals Elia.
Literaturempfehlungen:
- Roger D. Aus, Weihnachtsgeschichte – Barmherziger Samariter – Verlorener Sohn. Studien zu ihrem jüdischen Hintergrund, ANTZ 2, Berlin 1988.
- ders., Luke 1,37 in Light of Gen 18:14 and Judaic Traditions on the Wondrous Conception of Isaac by the Rejuvenated Virgin Sarah, in: ders., Essays in the Judaic Background of Mark 11:1214, 2021; 15:23; Luke 1,37; John 19:2830; and Acts 11:28, Lanham u. a. 2015, 67–116.
- Gudrun Holtz, Jungfrauengeburt und Greisinnengeburt. Zur Rezeptionsgeschichte von Gen 21,1f im antiken Judentum und im frühen Christentum, Göttingen 2017.
- Stefan Schreiber, Weihnachtspolitik. Lukas 1-2 und das Goldene Zeitalter, Göttingen 2009.
Septuaginta-Zitate aus: Wolfgang Kraus/Martin Karrer (Hg.), Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009.
Autorin: Dr. Nicole Oesterreich